Gut verwurzelt in der Gegenwart
Maria Voce: Eine unerwartete Art und Weise, den 100. Geburtstag von Chiara Lubich zu feiern:
Gut verankert im Jetzt
Editorial im Osservatore Romano vom 3. April 2020
„Feiern, um Begegnung zu ermöglichen“ lautet das Motto des Gedenkjahres der Fokolar-Bewegung 2020 zum hundertsten Geburtstag der Gründerin, Chiara Lubich. Bis vor kurzem schien uns dieser Titel überaus passend, um Chiara und das ihr von Gott geschenkte Charisma, das sie großzügig weitergegeben hat, auf verschiedenste Weisen zu feiern. Wir möchten, dass ihr die Menschen heute begegnen können. Es soll nicht um nostalgische Erinnerungen gehen, sondern darum, sie wiederzufinden in ihrer Spiritualität, ihren Werken und vor allem in ihrem „Volk“, das heißt, in denen, die heute ihren Geist der Geschwisterlichkeit, der Gemeinschaft und der Einheit leben.
Ab dem 7. Dezember 2019 freuten wir uns über die vielen Events, die weltweit stattfanden.
Gern hätten wir weiter gefeiert, aber von heute auf morgen kam alles anders. Das Motto „Feiern, um Begegnung zu ermöglichen“, war nicht mehr angebracht; auch wir haben jede Art von Feier oder Veranstaltung abgesagt. Aufgrund der Corona-Pandemie sehen sich nun immer mehr Nationen gezwungen, drastische Maßnahmen zur Eindämmung der Infektion zu ergreifen: Isolation und physische Distanz sind derzeit die wirksamsten Mittel. Das zeigen auch die Nachrichten aus China, die wir wochenlang besorgt mit verfolgt haben. Hier in Italien und in verschiedenen anderen Ländern ist die Lage immer noch sehr ernst.
Für viele von uns ist die Isolation eine völlig neue Erfahrung, die nicht nur eine soziale oder psychologische Dimension hat, sie wirkt sich auch in spiritueller Hinsicht kräftig aus. Das betrifft alle und speziell die Christen.
Diese Situation trifft uns im Kern unserer spezifischen Spiritualität als Fokolar-Bewegung, denn wir sind auf Gemeinschaft und Einheit hin angelegt.
Beziehungen schaffen ist wohl die typischste Eigenschaft eines Menschen, der das Charisma von Chiara kennengelernt hat und es umsetzt. Und genau diese Dimension scheint nun höchst beeinträchtigt zu sein.
Doch Liebe lässt sich nicht aufhalten. Das erfahren wir in diesen tragischen Umständen auf großartige Weise. Von überall her und mehr denn je erhalte ich Erfahrungsberichte von Menschen, die sich auch unter schwierigen, nicht alltäglichen Bedingungen mit Kreativität und Fantasie für andere einsetzen: Kinder, die erzählen, wie sie mit kleinen Taten der Liebe die Schwierigkeiten des Zuhause-Bleibens überwinden; Teenies, die online gehen für eine Gebets-Stafette; Unternehmer, die diese Notsituation nicht für einen möglichen persönlichen Profit ausnützen, sondern den Dienst am Gemeinwohl im Blick haben.
Es gibt viele Möglichkeiten, Unterstützung und Trost zu schenken: allem voran durch das Gebet; aber auch durch einen Anruf, eine WhatsApp-Nachricht oder eine E-Mail, damit sich niemand allein fühlt – ob zu Hause, im Krankenhaus oder an vorderster Front im Einsatz für diejenigen, die die Folgen dieser Situation zu tragen haben. Aber es gibt auch Solidaritätsbekundungen, die uns helfen, unser Herz weit über die Corona-Pandemie hinaus zu öffnen: von jungen Leuten, die trotz ihrer dramatischen Bedingungen in Syrien die Kraft finden, an uns, hier in Italien, zu denken. Die Jugendlichen zeigen uns, wie sich diese Erfahrungen durch das Teilen in den sozialen Medien vervielfachen und so auch das Gute ansteckend sein kann.
Durch diese Begebenheiten ist in mir eine Überzeugung gereift: Das Jubiläum zum 100. Geburtstag von Chiara Lubich ist nicht unterbrochen und das Motto „Feiern, um Begegnung zu ermöglichen“, ist aktueller denn je.
Unser Vater im Himmel – oder vielleicht Chiara selbst – lädt uns ein, dieses Jubiläumsjahr auf tiefere, authentischere Art und Weise zu leben. Trotz der Einschränkungen, selbst ohne gemeinsam gefeierte Gottesdienste, können wir die lebendige und starke Gegenwart Jesu wiederentdecken im gelebten Evangelium, in der Liebe zum Nächsten und mitten unter denen, die – auch auf Distanz – in seinem Namen vereint sind.
Vor allem aber lässt Chiara uns ihre große Liebe neu entdecken, ihren Bräutigam: Jesus den Verlassenen – „den Gott Chiaras“ – wie der Erzbischof von Trient, Lauro Tisi, ihn genannt hat.
Es ist der Gott, der an die Grenzen ging, um jede Grenzerfahrung in sich selbst aufzunehmen und ihr so Wert verliehen hat. Es ist der Gott, der Peripherie geworden ist, damit wir ihm auch in der extremsten Erfahrung noch begegnen können. Es ist der Gott, der sich jeden Schmerz, jede Angst und Verzweiflung, jede Melancholie zu Eigen gemacht hat und uns so zeigt, dass der angenommene und in Liebe umgewandelte Schmerz eine unerschöpfliche Quelle der Hoffnung und des Lebens ist.
Diese globale Krise fordert von uns, nicht auszuweichen, nicht nur zu versuchen, sicher über die Runden zu kommen. Es geht vielmehr darum, uns gut in der Gegenwart zu verankern und jede schwierige Situation – ob persönlich oder nicht – anzuschauen, anzunehmen und anzupacken, sie zu einer Begegnung mit „Jesus in seiner Verlassenheit“ werden zu lassen. Die Liebe zu ihm schenkt uns die Kraft und Kreativität, trotz allem Beziehungen der Geschwisterlichkeit und Liebe aufzubauen.
Jede Begegnung mit „dem Bräutigam“, dem verlassenen Jesus, war für Chiara ein Fest, etwas Feierliches. In der Begegnung mit ihm – davon bin ich überzeugt – begegnen wir auch ihr; denn wie sie es versucht hat, werden auch wir immer mehr lernen, jede Situation aus der Sicht Gottes zu sehen. Vielleicht machen dann auch wir die Erfahrung von Chiara und ihren ersten Gefährtinnen, die den Krieg und dessen Ende „fast nicht“ bemerkten, da sie derart von Gott und seiner Liebe gepackt waren und die konkrete Liebe unter ihnen und mit vielen in ihrer Stadt stärker war als alles andere.
Wir wissen nicht, wie lange diese Krisensituation noch dauern wird: vielleicht Wochen oder Monate. Sie wird vergehen. Die Welt aber, die nachher sein wird, bauen wir jetzt auf.
QUELLE: L‘Osservatore Romano, Jahr CLX Nr. 76, Vatikanstadt, Freitag, 3. April 2020