Wort des Lebens Oktober 2016
In gewalttätigen Gesellschaften wie den unseren ist Vergebung ein schwieriges Thema. Wie kann man jemandem vergeben, der eine Familie zerstört, unsagbare Verbrechen begangen oder sich einfach in persönliche Belange eingemischt, unser Vertrauen missbraucht, vielleicht unsere Karriere zerstört hat?
Instinktiv drängt es uns zur Vergeltung und dazu, Böses mit Bösem auszugleichen, wodurch eine Spirale von Hass und Aggression in Gang gesetzt wird, die unsere Gesellschaft verrohen lässt. Oder wir brechen einfach jede Beziehung ab, pflegen Hass und Groll und geraten so immer mehr in eine Haltung, die unser Leben verbittert und unsere Beziehungen vergiftet.
„Vergib deinem Nächsten das Unrecht, dann werden dir, wenn du betest, auch deine Sünden vergeben.“
Das Wort Gottes geht hier entschieden dazwischen und fordert uns zur schwierigsten aller möglichen Lösungen auf: zur Vergebung.
Die Aufforderung kommt dieses Mal von einem alttestamentlichen Weisheitslehrer: Ben Sira 1). Er zeigt auf, wie absurd es ist, Gott um Vergebung zu bitten, wenn man selbst nicht vergeben kann. „Wem vergibt Gott die Sünden?“, lesen wir im Talmud, einer altjüdischen Überlieferung. „Dem, der selbst vergeben kann.“ 2) Nichts anderes hat Jesus uns in dem Gebet gelehrt, mit dem wir uns an den Vater wenden: „Erlass uns unsere Schulden, wie auch wir sie unseren Schuldnern erlassen haben.“ 3)
Auch wir machen Fehler und hoffen jedes Mal, dass man uns vergibt, uns weiter vertraut und uns die Chance gibt, neu anzufangen. Wenn es uns so geht, dann geht es anderen bestimmt genauso. Sollen wir die anderen nicht lieben wie uns selbst?
„Vergib deinem Nächsten das Unrecht, dann werden dir, wenn du betest, auch deine Sünden vergeben.“
Chiara Lubich, von deren Anregungen unser Verständnis des Wortes Gottes geprägt ist, hat die Einladung zur Vergebung folgendermaßen kommentiert: „Vergeben ... bedeutet nicht, die Augen vor der Wirklichkeit zu verschließen. Vergebung ist auch nicht Schwäche, die ein Unrecht ungesühnt lässt, weil es ein Stärkerer begangen hat. Vergebung besteht nicht darin, ein schwerwiegendes Vergehen zu bagatellisieren oder Schlechtes gut zu heißen. Vergebung ist auch nicht mit Gleichgültigkeit zu verwechseln. Die Vergebung ist vielmehr ein bewusster Akt des Willens, der in voller Freiheit erfolgen sollte. Er besteht darin, jeden Menschen so anzunehmen wie er ist, auch wenn er uns Unrecht angetan hat. Auch Gott nimmt uns Sünder ja mit unseren Schwächen und Verfehlungen an. Vergebung heißt, auf eine Verletzung nicht mit einer Verletzung zu antworten, sondern zu tun, was Paulus sagt: ‚Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse durch das Gute!’ 4) Vergebung bedeutet weiter, dem der uns Unrecht getan hat, die Möglichkeit einer neuen Beziehung zu uns zu eröffnen; die Möglichkeit also für beide Seiten, einen neuen Anfang zu setzen und eine Zukunft zu gestalten, in der das Böse nicht das letzte Wort hat.“
Das „Wort des Lebens“ kann uns dabei helfen, nicht aus der Stimmung heraus zu reagieren und das Böse sofort zu vergelten. Es kann uns helfen, den vermeintlichen Feind mit anderen Augen zu betrachten und ihn als Bruder zu sehen, der schlecht sein mag, aber vielleicht gerade deshalb jemanden braucht, der ihn gern hat und ihm hilft, sich zu ändern. Das wäre unsere Art von „Rache aus Liebe“.
„Man kann einwenden: ‚Das ist sehr schwer.’“, fährt Chiara Lubich fort. „Zweifellos. Doch darin liegt ja gerade das Herausfordernde am Christentum. Nicht umsonst stehen wir in der Nachfolge Christi, der am Kreuz den Vater um Vergebung für diejenigen bat, die ihn in den Tod geschickt hatten. Und dieser Christus ist auferstanden. Nur Mut! Versuchen wir ein solches Leben. Es verspricht uns einen Frieden, wie wir ihn noch nie gespürt haben, und eine Fülle bisher unbekannter Freude.“ 5)
Fabio Ciardi
1) Das nach Ben Sira benannte Buch Jesus Sirach ist in den evangelischen Bibelausgaben nicht enthalten. Es gehört zu den Büchern, von denen Luther sagt, sie seien „der Heiligen Schrift nicht gleich gehalten und doch nützlich und gut zu lesen“.
2) Vgl. Der babylonische Talmud, Megillah 28a.
3) Matthäus 6,12
4) Römer 12,21
5) Aus: Neue Stadt, 9/2010, S. 18