Welchen Beitrag können wir geben, damit die Welt besser wird?

Dialog mit dem Rektor der Päpstlichen Lateran-Universität Vincenzo Buonomo, dem Wirtschaftswissenschaftler Luigino Bruni und Amy Uelmen, Anwältin und Dozentin an der Georgetown University.

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Stefania: Jetzt sind wir verbunden mit Amy Uelmen aus Washington sowie mit Vincenzo Buonomo und Luigino Bruni aus Italien. Hallo allerseits und herzlich willkommen!
Meine Frage an euch allet: In den Medien hören und lesen wir immer wieder: „Nach dieser Pandemie wird die Welt anders sein als zuvor ...“ Wird das wirklich eintreffen? Und was heißt das? Amy, du bist Anwalt, lehrst an der Georgetown University in Washington und förderst hauptsächlich in den USA Projekte zur Überwindung zwischenmenschlicher und gesellschaftlicher Spaltungen und Polarisierungen.

Amy Uelmen: Hier ist das Schlimmste noch nicht eingetroffen. Wir bereiten uns wirklich auf die brutalsten Auswirkungen vor, vor allem in New York. Deshalb bitten wir alle, auch dafür zu beten. Aber ich glaube, wir erleben bereits einen sehr, sehr starken Moment der Wahrheit. Unsere Gesellschaft legt großen Wert auf Eigeninitiative und schätzt die Freiheit, Träume und kreative Projekte zu verwirklichen, und das kann wunderbar sein. Wenn wir uns intensiv nur auf unsere Aktivitäten konzentrieren, besteht die Gefahr jedoch, unempfindlich oder sogar blind für diejenigen zu werden, die weniger Ressourcen haben und hoffen, genauso gültige Träume zu verwirklichen. Warum sollten sich Menschen mit Ressourcen um jene kümmern, die keine Kranken- oder Arbeitslosenversicherung haben, die ausgegrenzt sind, weil sie keine Dokumente haben? Ich glaube, dass das Virus uns eine starke und klare Antwort gibt und zeigt: Wir gehören zusammen, sind weltweit zutiefst miteinander verbunden. Und wenn wir keinen Weg finden, unser politisches und soziales Leben neu zu gestalten, um uns konkret um die Grundbedürfnisse des anderen zu kümmern, kann sich niemand entwickeln. Diese Krise ist die Stunde der Wahrheit. Ihr fragt euch, wie diese Erfahrung unsere Welt verändern wird? Ich gebe mich nicht der Illusionen hin, dass unser derzeitiges Ausmaß politischer Polarisierung plötzlich weggezaubert wäre. Aber ich glaube, dass dieser Moment der Wahrheit unsere kollektive Psyche prägen wird. Und diese tiefgreifende Erfahrung, physisch miteinander verbunden zu sein, kann dazu beitragen, Raum für eine tiefere Reflexion über die Grenzen und Möglichkeiten unserer gegenwärtigen politischen und sozialen Strukturen zu schaffen. Deshalb finde ich darin einen Sinn, eine Hoffnung.

Stefania: Danke, Amy. Luigino Bruni, wie stellst du dir als Wirtschaftswissenschaftler die Wirtschaftslage der Menschheit nach der Pandemie vor?

Luigino Bruni: Nun, wir können es noch nicht sagen, wir müssen warten, bis es irgendwie vorbei ist. Aber etwas können wir schon sagen. In erster Linie müssen wir lernen, besser mit einer gewissen Verwundbarkeit zu leben. Denn wenn wir von einer Welt ohne Verwundbarkeit träumen, werden sich die Länder nachher in einem neuen Nationalismus einkapseln und neue Grenzen errichten. Und das wäre wirklich das Schlimmste, was uns passieren kann. Jahrhunderte der Integration würden verloren gehen, um von einer Welt zu träumen, in der niemand etwas riskiert. Das große Problem des Risikos. Das heißt, wir müssen lernen, mit Verwundbarkeit und Risiko auf eine völlig neue, globale Art und Weise umzugehen.
Und dann müssen wir uns wieder an kurze Distanzen gewöhnen. Wir brauchten Jahrhunderte, Jahrtausende, um zu lernen, uns die Hand zu geben, uns zu berühren und zu umarmen. Denn in der Antike hatte man Angst und Misstrauen gegenüber dem anderen, dem Fremden, denen gegenüber, die aus der Ferne kamen. Wenn wir das Haus wieder verlassen können, müssen wir neu lernen, einander nahe zu sein. Es wird eine Tendenz geben, sich fern zu halten, Immunität zu bewahren aus Angst, der andere könnte ein Virus für mich sein und kein Freund, kein Bruder. Und für uns, denen die geeinte Welt am Herzen liegt, ist das ein ernstes Problem.
Was wird sich für die Wirtschaft ändern? Ich weiß es nicht, ich fürchte, es wird sich wenig ändern, in dem Sinn, dass es für die Menschen heute nicht so offensichtlich ist, dass diese Krise auch eine Krise des Kapitalismus ist. Ich fürchte, wenn wir das Haus wieder verlassen können, werden wir alle in die Einkaufszentren strömen. Und die Unternehmen müssen dann unbedingt mehr produzieren, schneller als zuvor, um die verlorenen Monate aufzuholen.
Aber an den Monaten dieser dramatischen Erfahrung ist das Gute, dass wir alle zusammen auf der ganzen Welt die gleiche Erfahrung machen. Das hat die Menschheit noch nie erlebt. Nützen wir deshalb diese Zeit, weil die Menschen jetzt mehr zuhören.
Wenn wir über relationale Güter (Güter der Beziehung) sprechen: wie viel ist die Beziehung wert, jetzt wo wir zu Hause sind? Man lernt, bestimmte Dinge zu verstehen, die man in normalen Zeiten nicht begreift, den Wert der Begegnung zum Beispiel und dass man in Ruhe miteinander reden kann.
Abschließend würde ich sagen: Was nachher kommt, hängt auch davon ab, was wir jetzt tun, d. h. wer denkt, wer Ideen hat, wer verschiedenen Stimmen Gehör verschafft, wer Kultur und Meinung prägt. Denn heute hören die Menschen viel mehr zu als vor der Krise und als sie es nach der Krise tun werden.

Stefania: Danke, Luigino!
Vincenzo, du bist Rektor der Päpstlichen Lateranuniversität und Professor für Internationales Recht. Welche Welt erwartet uns also?

Vincenzo Buonomo: Ich glaube, die Welt wird immer dieselbe sein: eine Welt mit dem Zyklus der Jahreszeiten, mit begrenzten Ressourcen, eine Welt, die aus vielen Unterschieden besteht. Wichtig ist, dass wir uns in dieser Zeit verändert haben, das heißt, dass jeder und jede fähig wurde, auf neue Situationen zu reagieren.
Im Moment werden viele von der Angst gepackt, weil sie an morgen denken. Das muss man sicherlich, jedoch ausgehend von einer Veränderung unser selbst. Das wirdsich dann dirket auch auf Institutionen und Regeln auswirken wird.

Man sagt, dies sei ein Konflikt, ein Krieg, als ob das etwas Neues wäre. In Wirklichkeit erleben wir die Konflikte, die Kriege täglich. Dies ist ein anderer Krieg, aber am Ende eines Krieges müssen die Regeln neu geschrieben, die Werte neu aufgestellt werden. Ich glaube, das ist der wichtigste Aspekt. Das heißt, in dieser Phase müssen wir in der Lage sein, etwas vorzuschlagen. Wir dürfen nicht darauf warten, dass sich jemand ändert, sondern müssen auch selbst etwas vorschlagen.
Nationale und internationale Institutionen haben uns gezeigt, dass sie relativ gut auf Probleme reagieren können. Warum? Weil sie in einem völlig anderen Kontext denken.
Wenn es einen weiteren Anstoß zur Reform der UNO oder der Weltgesundheitsorganisation geben sollte, dann ist es jetzt an uns, die Verantwortung zu übernehmen. Denn wenn wir darauf warten, dass jemand anderes die UNO, die WHO reformiert, dann können wir lange warten. Die Gefahr besteht darin, dass die vorherrschenden Klassen in vielen Ländern ausgelöscht werden. Betrachten wir die Risikobewertung auf globaler Ebene. Was wird der nächste Beitrag sein?

Fast täglich treffe ich mich mit Studenten zu Online-Vorlesungen. Und gerade heute Morgen sagte ich ihnen: „Eure Mitstudenten, die eben erst ihr Medizinstudium abgeschlossen haben, wurden in den Einsatz geschickt. Von euch wird das zwar nicht verlangt, denn ihr studiert andere Fächer. Aber Achtung, von euch wird die Bereitschaft verlangt, die Leitung einer Institution, eines Landes oder einer Behörde in die Hand zu nehmen.

Stefania: Danke, Vincenzo.
Eine letzte Frage an alle, mit der Bitte um eine Antwort im Telegrammstil. Es wäre gut, wenn ihr euch dabei an das haltet, was du über die persönliche und gemeinsame Verantwortung gesagt hast: Welchen konkreten Beitrag können wir als einzelne oder als Gruppierung jetzt und in Zukunft leisten, wenn alles wieder normal läuft?

Amy: Wie Vincenzo unterrichte ich auch online und sehe mit meinen Studenten, meiner Familie und in all meinen Beziehungen: das größte Geschenk, das ich teilen kann, ist in diesem Moment der Mut, meine Ängste und meine Grenzen, die in der Krise zutage getreten sind, offen zuzugeben. Und wie Luigino sagte, können wir genau diese Art von Verwundbarkeit in unseren Beziehungen leben. Auf dieser Grundlage können wir Gemeinschaft aufbauen, wo wir einander voll und ganz annehmen, so wie wir sind, gemeinsam Menschlichkeit leben und zusammen den Weg erkennen, den wir gehen müssen.

Luigino: Wir haben in dieser Krise verstanden, wie wichtig wir Menschen sind. Denn einerseits sind Milliarden in der gleichen Situation, andererseits haben wir gesehen, wie viel eine einzelne Person, die die Gesetze nicht respektiert, bewirken kann – im Schlechten und im Guten. Und wir haben auch neu verstanden, was das Gemeinwohl ist, weil wir gesehen haben, was das gemeinsame Übel ist. Es bedurfte eines gemeinsamen Übels, um das Gemeinwohl wieder zu begreifen; das heißt, wir sind ein einziges Ganzes, wir gehören zusammen. Das dürfen wir nicht mehr vergessen.
Das ist - wie Vincenzo sagte – eine Lektion für uns. Wir müssen verändert aus dieser Situation herauskommen. Vielleicht beginnt die Welt wieder zu rennen, aber wir müssen nach diesen Monaten der kollektiven und globalen Quarantäne anders weiterleben.

Vincenzo: Wir müssen fähig sein, starke Ideen wie die vereinte Welt, wie Teilen und Solidarität zu artikulieren, vielleicht durch andere Regeln. Das ist jetzt an der Zeit. Wenn wir es vorher nicht konnten, haben wir jetzt die Möglichkeit, und zwar auf allen Ebenen: lokal und weltweit.

Stefania: Herzlichen Dank an alle: Amy, Vincenzo und Luigino.

Gedanken

Wer kennt es nicht?
Peter Dettwiler, reformierter Theologe
Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Innsbruck
Gebet aus der Ostkirche