„Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem eigenen Auge bemerkst du nicht?“ (Lukas 6,41)
Nachdem Jesus die Nacht allein im Gebet auf einem Berg verbracht hatte, stieg er wieder zu den Jüngern hinunter. Er lehrte sie lange und begann seine Rede mit den Seligpreisungen.
Selig nennt Jesus die Armen, Hungernden und Weinenden, ganz im Gegensatz zu den Reichen, Satten und Überheblichen. Gott steht auf der Seite der vermeintlichen Verlierer. Jesus machte das schon vorher deutlich, als er in der Synagoge von Nazareth davon sprach, dass der Geist Gottes auf ihm ruhe, um den Armen eine frohe Botschaft, den Gefangenen die Freiheit und den Blinden das Augenlicht zu bringen.
Zu den Jüngern sprach er nun auch über die Liebe zu den Mitmenschen, sogar zu den Feinden, die ihren Ursprung im Herzen des himmlischen Vaters hat: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!“ (Lukas 6,36).
Daraus folgt: „Richtet nicht, dann werdet auch ihr nicht gerichtet werden! Verurteilt nicht, dann werdet auch ihr nicht verurteilt werden! Erlasst einander die Schuld, dann wird auch euch die Schuld erlassen werden!“ (Lukas 6,37). Das Bild, das er in diesem Zusammenhang verwendet, ist gewollt unverhältnismäßig:
„Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem eigenen Auge bemerkst du nicht?“
Jesus kennt uns. Wie oft sind wir geneigt, die Schwächen und Fehler unserer Mitmenschen zu kritisieren, ohne anzuerkennen, dass nur Gott ein Urteil zusteht. Um den Balken in unserem Auge herauszuziehen, brauchen wir die Demut, die aus dem Bewusstsein erwächst, Sünder zu sein und beständig der Barmherzigkeit Gottes zu bedürfen. Nur wer den Mut hat, den Balken im eigenen Auge zu sehen, wird die eigenen Schwächen und Grenzen und die der Mitmenschen verstehen können, ohne zu urteilen.
Es geht nicht darum, die Augen zu verschließen und einfach alles gutzuheißen. Zur Nachfolge Jesu gehört, einander zu helfen, auf dem Weg des neuen Lebens voranzukommen. Auch der Apostel Paulus schreibt immer wieder davon, dass wir uns umeinander kümmern, die Undisziplinierten korrigieren, die Kleinmütigen ermutigen, die Schwachen stärken und mit allen geduldig sein sollten. Nur die Liebe ist zu solchem Dienst fähig.
„Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem eigenen Auge bemerkst du nicht?“
Wie können wir dieses „Wort des Lebens“ umsetzen?
Wir können in dieser Vorbereitungszeit auf Ostern Jesus darum bitten, dass wir unsere Mitmenschen so sehen können, wie Gott sie sieht. Gott sieht mit dem Herzen, denn er schaut voller Liebe auf jeden Menschen. Um einander zu helfen, können wir eine Praxis wieder aufnehmen, die für die erste Gruppe der Fokolarinnen in Trient entscheidend war; Chiara Lubich erzählte einer Gruppe von muslimischen Freunden einmal so davon:
„Vor allem am Anfang war es nicht immer leicht für unsere Gruppe von jungen Frauen, die Liebe mit dieser Entschiedenheit zu leben … Auch unter uns, in unseren Beziehungen, konnte sich Staub ansetzen, die Einheit schwächer werden. Das geschah etwa, wenn wir die Fehler, die Unvollkommenheiten der anderen bemerkten, sie deshalb verurteilten und so die gegenseitige Liebe erkalten ließen.
Um Abhilfe zu schaffen, kam uns eines Tages der Gedanke, unter uns einen Pakt zu schließen, den wir den ‚Pakt der Barmherzigkeit‘ nannten. Wir beschlossen, jeden Morgen den Mitmenschen, dem wir in der eigenen Gemeinschaft, in der Schule, bei der Arbeit begegneten, neu, ganz neu zu sehen. Wir wollten uns nicht an seine Fehler erinnern, sondern alles mit der Liebe zudecken … Es war eine ernsthafte Verpflichtung, die wir alle gemeinsam auf uns nahmen. Sie half uns, als erste zu lieben nach dem Vorbild Gottes, der barmherzig ist, verzeiht und vergisst.“
Augusto Parody Reyes und Team