Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir

In diesen herausfordernden Zeiten beeinflussen vielerlei Maßnahmen auch den beruflichen Alltag der Pädagog*innen stark, ja verändern ihn gar sehr.

Pädagogik

Die Pandemie des Corona-Virus lässt die Welt den Atem und das Lebenstempo anhalten. Die äußerst ansteckende Krankheit, die sich alle Länder der Erde in erschreckender Geschwindigkeit erobert, ist einem schier unheimlich. 

Unterschiedlich schnell reagieren die Regierungen mit Maßnahmen, um die Ausbreitung zu verlangsamen. Vielerorts wird das Leben einfach total „heruntergefahren“: Ausgangsbeschränkungen, soziale Distanz, Schulschließungen, Stilllegung des Universitätsbetriebes, Homeoffice, Geschäftsschließungen, Veranstaltungs- und Versammlungsverbot – das die Kultur- und Sporteinrichtungen sowie auch Religionsgemeinschaften trifft. 

In diesen herausfordernden Zeiten beeinflussen vielerlei Maßnahmen auch den beruflichen Alltag der Pädagog*innen stark, ja verändern ihn gar sehr.

Dennoch machen viele recht positive Erfahrungen, die sich aus diesen Veränderungen ergeben!

Einige Beispiele berichten davon, mit wie viel Engagement und Kreativität, aber auch Liebe und „Herzblut“ für den Beruf, auf diese Herausforderungen geantwortet wird.

Sehr herzlich möchten wir Pädagogen und Pädagoginnen, aber auch Eltern dazu einladen, Erfahrungen in den Zeiten von „Homeschooling“ aufzuschreiben und uns zukommen zu lassen, damit wir von einer „Kultur der Geschwisterlichkeit“ erzählen können!

Bitte sendet eure Beiträge an Elisabeth Pohl (Österreich), e.pohl@aon.at. Mit eurer Zusendung gebt ihr die Einwilligung zur (auch auszugsweisen) Veröffentlichung in einem Newsletter. 

Hier einige Beispiele:

Leben als Schulleiterin während der COVID-19-Maßnahmen

Maria Zangl, Niederösterreich

 

Ich leite in einer Kleinstadt im Osten Österreichs eine kleine 8-klassige Volksschule (Grundschule) mit 12 Lehrerinnen im Stammpersonal.

Wie an allen Schulen in Österreich wurde der reguläre Unterricht direkt an der Schule mit 16. März eingestellt. Grundsätzlich steht die Schule für Kinder, die Betreuung brauchen, offen. Bis jetzt wurde dieses Angebot aber von niemandem angenommen. Die Lehrerinnen bereiten für die Schülerinnen und Schüler Arbeitspläne und -materialien in Papierform vor, die von den Eltern nach vorheriger Absprache abgeholt bzw. ausgearbeitet wieder zur Schule gebracht werden. Abgesehen von einer Lern-App fehlen uns für Online-Angebote die Erfahrung und die Ausstattung. Die Kommunikation mit den Eltern läuft überwiegend über Mails. 

Kommunikation in vielfältiger Form macht den überwiegenden Teil meiner Arbeit in dieser Zeit aus. Mir scheint es wichtig, gerade jetzt darauf zu achten, Beziehungen zu pflegen und nach Möglichkeiten zu suchen, trotz allem an Formen der Gemeinschaft zu bauen. Gerne nehme ich mir z. B. Zeit, hin und wieder mit Eltern durch das Fenster kurze Gespräche zu führen, wenn sie Arbeitsmaterialien abholen oder zur Schule bringen. So erfahre ich ein wenig von den verschiedenen Situationen zu Hause und die Eltern können erleben, dass wir mit ihnen durch diese herausfordernde Zeit gehen möchten. 

Ermutigend ist, dass auch die Mailkommunikation mit den Eltern keine Einbahnstraße bleibt, denn immer wieder antworten Eltern mit kurzen wertschätzenden Grüßen.
Der Elternverein hat außerdem meine Anregung aufgegriffen, die Elternvereinsseite auf unserer Homepage für positive Meldungen vom Leben zu Hause mit und rund um Home-Schooling zu nützen.

Eine Schwierigkeit besteht sicher darin, dass es durch die Distanz und das überwiegende Fehlen des direkten Kontakts viel leichter zu Missverständnissen kommt und kleine „Verletzungen“ in den Beziehungen passieren. Da die Schule aber relativ klein ist, kann ich auf individuelle Bedürfnisse und Unstimmigkeiten bei Eltern und Lehrerinnen sehr persönlich reagieren. Manchmal erfordert das von mir, über meinen Schatten zu springen, aus einer schriftlichen „Diskussion“ auszusteigen und zum Telefon zu greifen. 

Sehr ermutigend ist die gegenseitige Unterstützung der Lehreinnen im Kollegium. Die Mehrheit unter uns ist mit den neuen Medien wenig vertraut. Für Online-Unterricht fehlt uns das Know-how. Da greifen uns die „Jungen“ kräftig unter die Arme, beraten, organisieren, erklären mit viel Geduld. So haben wir nach den ersten zweieinhalb Wochen die erste Videokonferenz geschafft, die die Beziehung untereinander (und auch unser Selbstbewusstsein) gestärkt hat. Ich erlebe immer wieder, wie sich unsere nächsten gemeinsamen Schritte oder wertvolle Anregungen ergeben, wenn ich mir für das Zuhören und Aufnehmen der jeweiligen Bedürfnisse Zeit nehme. Frucht so eines Austausches ist, dass wir mit vereinten Kräften für alle Klassenlehrerinnen einfache Dienst-Handys organisieren konnten, um in Zukunft leichter mit den Kindern direkt in Kontakt treten zu können.

Eine weitere Initiative, die von einer Lehrerin angeregt wurde, ist das Gestalten von sogenannten „Covi-Fresserchen“. Nach dem Vorbild des „Traumfresserchen“ von Michael Ende, das schlechte Träume frisst, sollen die „Covi-Fresserchen“ die Viren fressen und uns vor der schlimmen Krankheit beschützen.

 

 

Sie schicken uns Fotos davon, die wir auf die Homepage stellen.

 

Eine weitere Aktion ging von der Gemeindevertretung aus. Die Kinder wurden eingeladen, Bilder zu gestalten, die an die Bewohnerinnen und Bewohner des Pflege- und Betreuungszentrums im Ort sowie an andere ältere Personen, die unter den Ausgangsbeschränkungen besonders zu leiden haben, ausgeteilt werden sollten. Wir gaben die Einladung unter dem Titel „Mit Bildern Freude bereiten“ weiter. Es entstanden sehr liebevoll und kunstvoll gestaltete Werke, zum Teil mit ein paar von den Kindern verfassten aufmunternden Worten oder Grüßen an die Empfänger versehen. Mir scheint, dass das eine Möglichkeit ist, mit den Kindern auch im Home-Schooling Öffnung nach außen und Interesse für die anderen zu leben.

Schließlich gibt es für mich noch die Gemeinschaft unter den Schulleiterinnen aller Schultypen in der Region. Ich organisiere regelmäßig informelle Treffen bzw. kollegiale Beratung für diese Gruppe. Mir ist aufgefallen, dass ich nach der Schulschließung drei Wochen lang von niemandem etwas gehört habe. So habe ich am Tag vor den Osterferien ein Mail mit einem kurzen Gruß unter dem Betreff „Anti-Corona-Einsamkeitsmaßnahme“ verschickt, das einige prompt beantwortet haben.

Susanne Tomecek, Wien

Nachdem Mitte März 2020 alle Bildungseinrichtungen in Österreich wegen der Corona-Virus- Pandemie geschlossen wurden, mussten auch wir an der Hochschule für Primarpädagogik in Wien alle Lehrveranstaltungen auf e-Learning umstellen.

Nun war ich herausgefordert, die Studierenden meines Faches „Selbst- und Sozialkompetenz“ mit digitalen Medien weiter zu unterrichten. Als erste Idee kam mir, dass die Studierenden diverse Artikel ausarbeiten oder Rechercheaufgaben durchführen sollten.

Aber gerade zum Lehrinhalt „Förderung der Sozialkompetenz“ war dies für mich so gar nicht passend/stimmig. Ich nahm mir einige Tage Zeit zum Überlegen, wobei ich erlebte, was dieses angeordnete Vermeiden von sozialen Kontakten mit mir und den Leuten um mich herum machte.

Plötzlich hatte ich die „Lösung“ und gab den Studierenden folgenden Arbeitsauftrag:

Sie sollten die Zeit, die sie bei mir im Seminar verbringen müssten, dafür nutzen, für andere Personen ganz konkret „da zu sein“. Das konnten Gespräche per Handy sein, oder das Angebot der Hilfestellung für ältere Menschen, oder bewusst den Familienmitgliedern im eigenen Haushalt Zeit widmen, oder … Diese Erfahrungen sollten sie dann reflektieren und verschriftlichen.

Dieser Vorschlag kam bei den Studierenden sehr gut an und ich bekam die Rückmeldung, dass sie dies als sinnvolle Aufgabe sehen, in dieser Zeit einer Krise Sozialkompetenz „zu leben“.

Monika Scheidler, Dresden

Seit Frühjahr 2016 habe ich eine Patenfamilie, die Ende 2015 aus dem kurdischen Teil des Irak nach Deutschland geflüchtet ist und jetzt in einer einfachen Wohnung in meinem Stadtteil untergekommen ist. Die Familie hat drei Kinder: einen 11jährigen Jungen, ein 4jähriges Mädchen, das in Deutschland geboren ist und zweisprachig aufwächst, sowie die 9jährige Lara, die gehörlos ist und eine Förderschule besucht, wo sie bisher in einer Klasse mit geistig-mehrfachbehinderten Hörgeschädigten lernt, weil sie bei ihrer Einschulung weder Gebärdensprache konnte noch gut mit Hörtechnik versorgt war.

Als der Asylantrag der Familie im Frühjahr 2017 mit der Zuerkennung von „subsidiärem Schutz“ endlich entschieden war, konnte ich Laras Eltern helfen, beim Sozialamt einen Antrag auf Gebärdensprachunterricht für Lara und die Eltern beim Sozialamt zu stellen, der bewilligt wurde. Lara und ihre Eltern lernen seit gut zwei Jahren zweimal wöchentlich nachmittags Deutsche Gebärdensprache. In der Schule ist Lara bisher mit dem Schwerpunkt „geistige Entwicklung“ jedoch nur bedingt gefördert worden, so dass sie auch als mittlerweile Viertklässlerin nur einzelne Worte lesen und verstehen kann, indem sie das jeweilige Wort mit dem entsprechenden Gegenstand oder einer Gebärde verbindet. 

Nachdem ein Intelligenztext, der am Uniklinikum gemacht werden konnte, ergeben hat, dass Laras IQ im Normalbereich liegt, habe ich ihren Eltern im November 2019 geholfen einen Antrag auf inklusive Beschulung zu stellen in Klasse 2 Grundschule des Förderzentrums. In dieser Klasse wird (im Unterschied zu Laras Klasse im Schulteil für geistig-mehrfach behinderte Hörgeschädigte) die normale Deutsche Gebärdensprache zur Verständigung genutzt. Anfang März 2020 wurde dieser Antrag insofern bewilligt, dass Lara vorerst für 12 Wochen zur Probe in der 2. Klasse der Grundschule mitlernen darf. Eigentlich sollte Laras Probebeschulung am 23.3.2020 starten, so dass noch vor den Sommerferien hätte entschieden werden können, ob sie nach den Sommerferien als Drittklässlerin mit neuem Förderschwerpunkt auf „Lernen“ weiter in diese Klasse gehen darf – in der Hoffnung, dass sie dann vielleicht noch richtig Lesen lernt. 

Durch die coronabedingte Schulschließung ist jetzt seit 18.3.2020 kein Schulbesuch möglich, so dass die Konkretisierung der Probebeschulung erneut in der Luft hängt. Ein Lichtblick tat sich auf, als die vom Sozialamt finanzierte Gebärdensprachdozentin sagte, sie könne den Gebärdenunterricht mit Lara auf Entfernung über Skype fortsetzen. Da Laras Familie keinen Laptop hatte, kam mir der Gedanke, einen älteren Laptop, den ich nicht mehr brauchte, für Lara und ihre Familie herrichten zu lassen. Gesagt - getan. 

Lara hat jetzt jeden Vormittag eine Stunde Gebärdensprachunterricht über Skype und nötigenfalls zusätzlich mit Video-Telefon über Whatsapp. Das gibt ihrem Tag Struktur und sie kann wenigstens einmal täglich ausführlich mit einer ihr vertrauten Person außerhalb der Familie sprechen. Lara macht weiterhin gut Fortschritte in Deutscher Gebärdensprache und die Dozentin macht mit ihr auch die Deutschaufgaben, die Lara von ihrer bisherigen Klassenlehrerin bekommt. 

Jetzt bleibt zu hoffen, dass Laras Probebeschulung in der Grundschulklasse nach Wieder-Aufnahme des Schulbetriebs gut läuft und dieses normal begabte gehörlose Mädchen dann vielleicht doch Perspektiven für sein Leben als Erwachsene entwickeln kann, die über die Möglichkeiten der Beschäftigung in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen hinaus gehen.

Wenn die Kirche insbesondere unter Corona-Bedingungen wie ein „Feldlazarett“ sein sollte, dann meint Papst Franziskus damit wohl, dass Christ*innen, christliche Gemeinschaften und die Kirche(n) über ihre Grenzen hinaus gehen und denen helfen sollen, die physisch, psychisch, sozial und geistlich am meisten verwundbar sind und verwundet werden. Wenn ich als Christin wie eine Lazarett-Helferin sein möchte, bedeutet das auch und gerade gesundheitliche, soziale sowie pädagogische bzw. diakonische / caritative Dienste zu leisten – auch ehrenamtlich und im besten Sinn des Wortes freiwillig. Dazu braucht es dann Bereitschaften und Fähigkeiten zur Diagnostik, zur Prävention und zur Rehabilitation. In diesem Sinne versuche ich Lara und ihre Familie zu unterstützen, weil Laras Eltern in Deutschland (allein auf sich gestellt) zum Wohl ihrer Tochter nur wenig könnten.

Am Freitagabend, 13. März 2020, beschloss der siebenköpfige Schweizer Bundesrat, dass wegen der Coronavirus Pandemie sämtliche Schulen geschlossen werden sollten. Auch als langjähriger Pädagoge und ICT-Coach für ein Schulhaus mit 540 SchülerInnen fragte ich mich: Was soll Fernunterricht bedeuten und wie sollen digitale Unterrichtsformen umgesetzt werden? Mir wurde sofort klar, dass der ungewöhnliche Umstand, neue Zusammenarbeitsformen unter Lehrpersonen, ein „Miteinander planen“ und ein „auf den anderen hören“ ermöglichen könnte. –

Um dies zu unterstützen und einen nahrhaften Boden zu legen, verbündete ich mich mit einem anderen ICT-Coach. Wir tauschten ein ganzes Wochenende lang darüber aus. Ziel war es, mit Zuversicht und fundiertem Fachwissen über Fernunterricht das „Miteinander planen“ und das „auf den anderen hören“ vorzubereiten! Es war eine großartige Erfahrung, dass Sandro dies auch so ermöglichen wollte.

Gemeinsam nahmen wir uns am Montag ganz zurück, hörten den anderen 58 Lehrpersonen gründlich zu und beantworteten IT-Fragen wohlweislich, dass es mehrere Phasen des Fernunterrichts geben werde. In der startenden Chaos-Phase dürfe jeder und jede ganz neue Zusammenarbeitsformen suchen, die wir technisch gerne unterstützen. Am Abend und in den daraufkommenden Tagen staunten wir über den Ruck, der durch das Team ging. Eine Vielzahl von unterschiedlichen Arbeitsformen entstand, trotzdem ganz einheitlich in der Kommunikation mit dem Elternhaus. - 
Verschiedene KollegInnen drückten aus, dass ihnen die Startruhe und das fachlich fundierte Miteinander von Sandro und mir Zuversicht und Perspektive gegeben haben.

Heute, nach vier Wochen Fernunterricht, liegt der Fokus ganz auf Zuhören. Viele Lehrpersonen sind den Familien sehr nahegekommen und durften diese behutsam und eng begleiten. Das Miteinander unter den Lehrpersonen ist nun an dem Punkt, wo wir darüber austauschen, was wir bei den Kindern zu Hause hören und sehen. Der Unterricht verändert sich gerade wiederum neu, ausgerichtet auf das, was Gott uns im Schmerz und in der Kreativität der Familien zeigt…

Als Anfang März die Kinder nicht mehr in die Praxis kommen durften, war ich zunächst perplex. 

Der Shut-down machte mich sprachlos und ich dachte: wir sind alle betroffen, auch die, die nicht krank sind. Wir sitzen im gleichen Boot, das wankt und schwankt. Wir haben in unserem Menschsein eine gemeinsame Not, da merken wir immer wieder neu unsere Verletzlichkeit. Wir haben nicht alles im Griff und können nicht steuern, wie wir wollen.

Als Christin habe ich mich in dieser besonderen Situation voll und ganz auf die Werte Frieden, Güte, Vertrauen und Geduld eingelassen, damit so unter uns – den Pädagoginnen und den Kindern sowie ihren Familien – ein Klima der gegenseitigen Wertschätzung und Geschwisterlichkeit entstehen könnte.

So habe ich mit meiner Kollegin daran gearbeitet, jede Woche für jedes Kind ein Programm in den vorgesehenen Förderbereichen zu erstellen. Das war mit viel Aufwand verbunden, da wir ganzheitlich arbeiten – mit allen Sinnen – und unterschiedliche Leistungsniveaus berücksichtigen müssen. Manche haben einen Computer, vielen mussten wir das Programm per Post schicken. Dann haben wir versucht, per Mail und Telefon mit den Familien in Kontakt zu bleiben oder in kritischen Situationen uns mit dem Jugendamt abzusprechen. So konnte zu vielen Familien eine intensive Verbindung gehalten werden und es kam manch schöne Rückmeldung mit Fotos der Kinder und den Ergebnissen ihrer Arbeiten. 

Eine schöne Begebenheit möchte ich noch erzählen: 

Ich habe einen Jungen in der Förderung, der wegen seines oppositionellen Verhaltens vor einem Jahr nicht eingeschult werden konnte, im Kindergarten nicht mehr tragbar war und bei uns soziale Kompetenz, Impulssteuerung und altersgemäße Fertigkeiten erlernen sollte. Wir hatten eine sehr enge Zusammenarbeit mit dem Kindergarten und der Mutter, jede Woche ein Feedback, um ihn von mehreren Seiten in gleicher Weise zu unterstützen. Als die Corona-Pause begann, hatte ich ihm schon gleich einige Aufgaben mitgegeben, die er erledigen sollte, wenn seine große Schwester für die Schule arbeiten musste. Die Mutter gab sich Mühe, Struktur zu bieten (bislang war es oft so, dass er im Wartezimmer auf dem großen Stuhl gesessen hatte und die Mutter auf dem Kinderstühlchen). Durch diese Struktur, die jede Woche daheim umgesetzt werden sollte, machte er in den Fertigkeiten große Fortschritte, was seinem Selbstwertgefühl zugutekam. Aber das Problem war die „soziale Kompetenz“. Da der Vater (Muslim) auch in Corona-Pause war, kam er über einige Wochen mit in die Praxis, als bei uns wieder geöffnet war, und nahm an den Stunden teil. Das war wichtig, weil er eine ganz andere Autorität darstellte als die Mutter. Ich hatte zur „sozialen Kompetenz“ ein Bilderbuch eingesetzt und der Vater griff die Geschichte sofort auf, um den Bogen zu den Alltagssituationen auf dem Spielplatz zu spannen. Der Junge war überrascht und konnte die Situation an sich heranlassen, ohne herumzublödeln und sich lustig zu machen. So konnte in der darauffolgenden Woche das Thema mit Rollenspielen aus anderen Perspektiven heraus vertieft werden. Der Vater brachte immer wieder Impulse aus dem Alltag mit ein, die die Arbeit sehr lebendig und passend werden ließ. Er sagte, dass er nicht gedacht hätte, dass diese Corona-Zeit so viel Positives für ihn bringen würde, denn ohne die Kurzarbeit hätte er nicht die Zeit gehabt, sich in die Problematik des Jungen zu versetzen, so intensiv daran zu arbeiten und auch so viel Anteile aus seiner eigenen Geschichte zu entdecken. Er hat mehr Verständnis über die Problematik gewonnen und mehr Verantwortung übernehmen können, was letztlich gute Prognosen auch für die „soziale Kompetenz“ seines Sohnes ergeben hat.

Roseli Weber, Deutschland